Eindrücke der Weihnachtsfeiern im „Centr Perspektiva“ von Anne Hofinga

23.12.22

Heute gefühlt 100 Stirnreifen für den Engelchor, den Erzähler, für Maria und den sehr komplizierten Sternenreif vom Erzengel Gabriel mit neuem Goldpapier beklebt. Zweimal alle sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums lang hat das gedauert… Das Hirn ist von den Uhudünsten leicht lahmgelegt. Irgendwo macht sich eine angenehme Euphorie bemerkbar. Gar nicht so übel, so in den Endspurt des Weihnachtsfeiermarathons einzusteigen, der unser Sozialzentrum „Perspektiva“ in Moskau jedes Jahr überkommt.

24.12.22

Unsere großen Fenstertransparente leuchten die Weihnachtsgeschichte auf die dunkle Straße hinaus. Manchmal sind schon Touristen gekommen, die sie von weitem sahen und angelockt wurden wie vom Stern zu Bethlehem. Der Chor, die Leiergruppe und die Laienspieler haben fertig geprobt und sitzen nun in der Schminke oder auch neben dem Bügelbrett, wo ihre Kostüme den letzten Schliff bekommen. Der böse Wirt übt, während ihm sein gewaltiger Bauch angeheftet wird, noch ein wenig an seiner grauslichen Donnerstimme, mit der er bald Maria und Joseph einmal wieder von der Schwelle jagen wird. Auch in der so wunderbaren Weihnachtsgeschichte muss es einen Stachel, eine Vertreibung, eine Ausgrenzung geben, sonst würde sie nicht vom echten Leben erzählen.

Heute und morgen um 11.00 Uhr und um 16.00 Uhr kommen ca. 200 Kinder aus sozialen Problemfamilien, städtischen Sozialzentren und Flüchtlingsfamilien zu Bastelwerkstätten, Hirtenspiel mit aktiver Teilnahme aller Kinder, „süßen Tischen“ und Weihnachtsgeschenken zu uns ins „Centr Perspektiva“. Das Hirtenspiel und die Traditionen kommen ursprünglich aus Deutschland. Aber das haben alle Mitwirkenden längst vergessen, so sehr sind die Weihnachts- und Osterfeiern in 30 Jahren schon ihre eigenen geworden. Als ich dieses Jahr vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen die großen Feiern aussetzen und nur mit älteren Flüchtlingskindern ein einfaches Krippenspiel für die jüngeren Kinder einüben wollte, provozierte das einen regelrechten Streik der Mitarbeiter und der Freiwilligen. Sie wollten auf diese Höhepunkte ihres Jahres nicht verzichten, auch wenn diese noch so viel zusätzliche Arbeit bringen würden.

Und natürlich haben sie Recht. Aus den Bildern, die zu Weihnachten und Ostern vor unser aller inneren Augen und in unseren Seelen aufleuchten, ist die gesamteuropäische Kultur entstanden und entwickelt sich bis heute fort. In Russland ernähren sich Seelen der Menschen ebenso von diesen Bildern, wie in allen anderen Ländern Europas. Das kann man nicht einfach canceln, negieren oder ausgrenzen. Und vielleicht werden diese gemeinsamen kulturellen Wurzeln eines Tages zur Grundlage für Frieden und Verständigung.

In diesem Sinne grüße ich Sie alle sehr herzlich und wünsche eine möglichst friedvolle Weihnachtszeit und Ruhe im Neuen Jahr!

Anne Hofinga

 

written by Johanna Großer